Die Nacht der Bomben
Potsdam im April 1945: Nazi-Deutschland ist am Ende, die russische Armee ist längst im Begriff die nahe Hauptstadt Berlin einzunehmen und alliierte Luftverbände fliegen bereits regelmäßig über Potsdam hinweg zur Reichshauptstadt und lassen dort ihre tödliche Fracht aus den Bombenschächten fallen. Allein von Januar bis Mitte April 1945 heulen die Sirenen in Potsdam über 130 Mal. Die über die Stadt fliegenden Flugzeuge und der damit einhergehende Weg zum Luftschutzbunker sind Bestandteil des Potsdamer Alltags. Doch bisher wurde die preußische Residenzstadt weitestgehend verschont. Lediglich am 22. Juni 1944 waren Babelsberg und die Teltower Vorstadt einem gezielten Tagesangriff der amerikanischen Luftstreitkräfte ausgesetzt. Die Bewohner Potsdams glauben im Frühjahr 1945 daher nicht mehr an eine groß angelegte Bombardierung ihrer Stadt. Deutschland hat den Krieg zu diesem Zeitpunkt bereits so gut wie verloren und kriegswichtige Schwerindustrie gibt es in der preußischen Residenzstadt nicht.
Montag, 9. April 1945
Ein Aufklärungsflugzeug („Spitfire“) überfliegt Potsdam und macht Fotos so wie dieses. Sie werden entscheidend für den Angriff wenige Tage später werden.
Donnerstag, 12. April 1945
Die Entscheidung ist endgültig gefallen: Potsdam wird am 14. April 1945
tagsüber angegriffen. Gegen 16.30 Uhr sollen acht Minuten lang Bomben
auf die Stadt fallen. Wenig später eine Änderung: Der Plan, bei
Tageslicht anzugreifen wird wieder verworfen. Ein Nachtangriff wird
beschlossen. Beginn der Bombardierung: Samstag um 22.50 Uhr. Einen Tag später, am 13. April 1945, bekommen die beteiligten R.A.F.-Einheiten ihre ersten konkreten Einsatzbefehle.
Samstag, 14. April 1945 Die Stunden vor dem Angriff
Samstag, 14. April 1945 Die Stunden vor dem Angriff
In der Nacht von Freitag auf Samstag gab es in Potsdam mal wieder
Fliegeralarm. Doch um kurz nach Mitternacht ist der Spuk vorbei. Potsdam
ist, wie schon so oft in letzter Zeit, mit dem Schrecken davongekommen.
Ein schöner, trockener und wolkenloser Frühlingsmorgen bricht an.
Die heutige Ausgabe der „Potsdamer Tageszeitung“ berichtet von den
aktuellen Kriegs- und Weltnachrichten. Daneben wird für
Backwürfel geworben und auf die Ausgabezeiten für Gemüse sowie
die Dom-Vesper am morgigen Sonntag hingewiesen.
Zudem wird informiert, wann und warum es Fliegeralarm gibt – und wie viel
Zeit bleibt, um in einen schützenden Bunker zu kommen.
Doch an diesem Vormittag ist alles ruhig, von feindlichen Bombern
keine Spur und auch Kampfhandlungen am Boden gibt es keine. Die schwangere, 30-jährige Dorothea Günther
bezieht nach dem Aufstehen die Betten frisch und freut sich bereits auf
den Abend, um zusammen mit ihrem Mann das „Wohlgefühl der frisch
bezogenen Betten zu erleben“.
Hauptmann Dr. Brauer muss an diesem Samstag zum Dienst
in die Gardes-Du-Corps-Kaserne Am Kanal. Dennoch ist es für ihn ein Tag „erfüllt von buntem Leben“. In der Kaserne herrscht Trubel. Etwa 200
Mann einer Sturmgeschützkompanie machen hier Zwischenstopp. Morgen
sollen sie weiter nach Böhmen ziehen.
17.45 Uhr: Start der britischen Bomber
Die letzten Startvorbereitungen bei der RAF sind abgeschlossen. 512 Flugzeuge heben innerhalb der nächsten 75 Minuten nach und nach von mehreren britischen Flugplätzen nördlich von London ab – davon haben 490 zumeist schwer beladende Lancaster-Bomber das Ziel Potsdam. Der Bomber-Strom wird fast 70 Kilometer lang werden. In Potsdam herrscht noch immer tolles Wetter und eine ungewöhnliche Fernsicht. Milde 13°C werden gemessen.
Fliegeralarm
Fliegeralarm
22:15 Uhr
Fliegeralarm in Potsdam. Die
Bomber sind eindeutig auf dem Weg Richtung Potsdam/ Berlin. Die
vordersten Flieger sind bereits im Luftraum über Hannover/ Braunschweig.
Der Schlösserverwalter Max Kühn bewohnt mit seiner
Familie eine Wohnung im nördlichen Commun am Neuen Palais. Seine
14-jährige Tochter Ilse Kühn ist erst
am Freitag von der Großmutter aus Peine in Niedersachsen heimgekehrt. Dort entkam sie einem Fliegerangriff unverletzt. Jetzt muss
sie wieder vor Bomben zittern.
Auch Anneliese Sotschek
(Jahrgang 1920) hört den Alarm. Sie ist zusammen mit ihrer Mutter, den
Großeltern und ihrem kleinen Bruder in der Wohnung der Familie in der
Wollestraße in Babelsberg. Zusammen macht man sich auf den Weg in den
Keller. Nur der Großvater will nicht: “Ich geh nicht in den Keller, ich
hab den Ersten Weltkrieg überlebt”, sagt er und bleibt in der Wohnung.
22.20 Uhr - Die ersten Flieger erreichen Potsdam
22.20 Uhr - Die ersten Flieger erreichen Potsdam
Erste Flugzeuge erreichen Potsdam. Doch noch fallen keine Bomben.
Manche Flieger sind schlicht und einfach zu früh und kreisen über der
Stadt.
Die 16-jährige Gisela Bohl lebt mit ihrer
Mutter, ihr Vater starb bereits 1939 an den Spätfolgen einer Verletzung
aus dem Ersten Weltkrieg, in der Stadtheide gegenüber vom
Luftschiffhafen. Fliegeralarme sind für sie nichts Neues, aber bisher „hatte es nie einen Angriff gegeben“. Mutter und Tochter sind
vorbereitet. „Ein Köfferchen mit Habseligkeiten“ steht immer
griffbereit. Dieses Mal ist der Lärm der Flieger aber lauter und länger. Den
Menschen, die den vorüber fliegenden Maschinen sonst nur hinterher
schauten, wird jetzt bewusst, dass dieser Angriff ihrer Stadt gilt. Sie
rennen in die Luftschutzkeller, versuchen ihr eigenes und das Leben
ihrer Liebsten in Sicherheit zu bringen. Viel Zeit bleibt ihnen nicht,
doch die vielen Fliegeralarme haben die Menschen eine gewisse Routine
entwickeln lassen.
Erstaunter Küster im Schutzraum
August Burda,
Küster der „St. Peter und Paul“ am Bassinplatz ist erstaunt, dass „entgegen den sonstigen Gewohnheiten, wo die Bewohner des Pfarrhauses
kaum die Luftschutzräume aufsuchten“, sich dieses Mal fast alle in dem
Schutzraum in der Charlottenstraße 54a versammelt haben.
Der 19-jährige Jürgen Zippel,
in Potsdam wegen eines Schulterdurchschusses in Behandlung, nimmt den
Alarm derweil nahezu gelassen hin. „Was soll in Potsdam angesichts der
Kriegslage noch geschehen“, fragt er sich. Dennoch macht er sich von
seiner Unterkunft in der Hohewegstraße 12 (heute: Friedrich-Ebert-Straße
121) zum nahegelegenen Schutzbunker auf.
Sie erlebte die Dresdner Bombennacht
Die schwangere Dorothea Günther
und ihr Mann hatten die Bombardierung Dresdens (Foto) im Februar 1945 erlebt
und Hunger und Kälte ertragen, doch die einsetzende Angst bei dem
Sirenengeheul können sie heute nicht verdrängen. Der Fliegeralarm reißt
sie aus den frisch gemachten Betten. Voller Entsetzen greifen sie das
Luftschutzgepäck und stolpern in den Keller.
Freude dagegen noch beim 15-jährigen Karl-Heinz Redlin.
Er ist Feinmechaniker-Lehrling bei Kaltenbach & Voigt in der
Mammonstraße (heutige W. Seelenbinder-Straße). Heute ist Nachtschicht
angesagt. Der Fliegeralarm kommt da genau richtig, denn Lust zum
Arbeiten hat Karl-Heinz nicht. Wie die meisten denkt er, dass schon
nichts passieren wird, die Bomber ihre Fracht weiter nach Berlin tragen. Im Bunker angekommen herrscht eine routinierte Alarmbereitschaft. Der
Luftschutzwart lässt sogar die Tür offen – man muss ja wissen, was
draußen so vor sich geht.
22.30 Uhr - Kurz vor dem Angriff
22.30 Uhr - Kurz vor dem Angriff
Das Weberhaus in der Goethestraße der Familie Boick hat keinen Keller mit Notausgang. Der Vater von Anneliese Boick
hat daher selbst einen Bunker im Garten errichtet. Aber die
hochschwangere Anneliese Boick weigert sich mit ihrer einjährigen
Tochter in den Bunker zu gehen. Ihre Mutter schreit.
Die junge Mutter Ursula Radke
lebt mit ihrem siebenmonatigen Baby und ihren Eltern in der
Albrechtstraße 20-24 (heute: Am Neuen Garten). Ihr Vater ist
Luftschutzwart und dreht gerade seine Runde.
Familie Reichstein,
Besitzer der Brennabor-Werke, haben auf Hermannswerder nicht nur ein
Grundstück, sondern auch einen Keller, der mehreren Menschen Schutz vor
den Bomben bieten kann. Zwölf Menschen kauern nun in dem Raum. Darunter
auch Ursula Rödiger, deren Mutter und Großmutter.
Leuchtender Himmel über der Stadt
Im Park Sanssouci tritt Karl-Heinz Voß mit seiner
Mutter vor die Tür der Villa Illaire. Die beiden leben im dem ehemaligen
Wohnhaus des Hofgärtners. Der Himmel über der Innenstadt ist
erleuchtet. „Heute ist Potsdam dran“, sagt die Mutter und flieht mit dem
Jungen in einen nahegelegenen Schutzkeller.
Die Deutsche Flak hat die feindlichen Flieger ins Visier genommen, deutsche Nachtjäger steigen auf.
(Foto: Schloss und Park Sanssouci aus der Luft, wahrscheinlich 1940er Jahre | Archiv)
22.39 Uhr – Der Angriff beginnt
Auf Befehl des „Master Bombers“
werden Beleuchtungsbomben über dem Zielgebiet abgeworfen. Anhand eines
wenige Tage zuvor geschossenen Luftbildes der alliierten Streitkräfte
wurden dafür vier markante Punkte rund um das Stadtzentrum ausgemacht.
Im Zentrum des Zielgebietes liegt der Bahnhof.
Hauptmann Dr. Brauer huscht in der
Gardes-du-Corps-Kaserne über die Gänge. Er will schnell in den Keller
gelangen. Die Fenster sind mit schweren Vorhängen zugezogen, doch der
grelle Schein der Markierungsbomben fällt durch das eine oder andere
Loch. Er schiebt den Vorhang leicht zur Seite und „prallt geblendet
zurück. Es ist, „als senk[e] sich der gestirnte Himmel langsam auf die
Erde, jeder Stern eine grellweiße Fackel mit einem weißlichen Schweif
hinter sich“.
(Bild: Das Zielgebiet, in dem die Bomben auf Potsdam abgeworfen werden sollten. | Google Maps)
Immer wieder Explosionen
Immer wieder Explosionen
In der Goethestraße in Babelsberg schlägt eine Bombe ein. Anneliese Boick
ist nicht in den Bunker gegangen. Zusammen mit ihrer kleinen Tochter
steht sie unter freiem Himmel. Ihre Tochter entgleitet ihr. Sie selbst
wird verschüttet und hat „nur die Arme noch frei“. Sie kann keine klaren
Gedanken mehr fassen. „Was wird nun?“, fragt sie sich. Aber da ist
schon der Vater bei ihr und gräbt sie und die Tochter daneben aus. Sie
blickt sich um. Die Bombe hat wohl eine Garage ganz in der Nähe
getroffen. Die Autos wurden herausgeschleudert. Zusammen machen sie sich
auf den Weg zum nächsten Luftschutzbunker.
Im Keller in der Wollestraße in Babelsberg, dort, wo Anneliese Sotschek
hockt, öffnen sich durch den Luftdruck der Bomben die Rußklappen der
Öfen. Die Menschen drohen zu ersticken. Die Hauswirtin fasst sich ein
Herz, rennt hoch und holt Wasser.
In der Wallstraße (heute:
Karl-Gruhl-Straße) in Babelsberg brennt es „an einigen Stellen
lichterloh“. Das Schnelligkeitskommando mit Harry Wonneberger
rückt an. Bevor die Löscharbeiten beginnen können, „muss man zunächst
Wasser holen; es wird aus der Havel gepumpt mit einer 500 Meter langen
Schlauchkette“. Tote Körper und der "Geruch verkohlter Leichen" gehen
ihm nahe, aber Angst hat Harry Wonneberger nicht. Durch Löscharbeiten in
Berlin „hat er die schlimmsten Folgen von Luftangriffen“ erlebt. Er und
seine Kameraden sind „abgestumpft“. Über die Erlebnisse sprechen sie
untereinander nicht. Ihre Nacht wird noch bis Sonntag um 15 Uhr gehen.
Auch Dorothea Günther
empfindet eine Todesnähe wie nie zuvor. Sie hat das Gefühl, die Welt
geht unter. Die Mauern rings herum „wackeln, Kalkbrocken fallen von der
Decke, Mörtel rieselt herunter, zerberstendes Glas scheppert“. Der Boden
unter ihnen rollt so, „als sei heftiger Wellengang“. Bei jedem
Einschlag denkt sie, dass das Haus einstürzt, das Ende gekommen ist.
In
dem Schutzraum in der Nähe des Parks Sanssouci, in dem auch Karl-Heinz Voß und seine Mutter sind, herrscht Totenstille. Die Menschen im Keller sind bleich und schweigen. Auch Wolfgang W.
ist von dieser unheimlichen Stille umgeben. Stumm beten die Menschen,
während draußen die Bomben fallen. Im Keller schwankt es „wie auf einem
Schiff oder bei einem Erdbeben“. Das Heulen der fallenden Bomben ist das
Schlimmste. Sobald es aber kracht, stellt sich auch eine gewisse
Erleichterung ein: Man lebt noch, die Bombe ist woanders explodiert.
Dann geht ganz in der Nähe eine Luftmine runter. Der Zugang zum Keller
ist verschüttet.
Kaum Luft zum Atmen
Karl-Heinz Blank und zwei, drei seiner
Begleiter haben sich ihrem Schicksal ergeben. Sie setzen sich „bei der
Langen Brücke ans Havelufer und lassen den Angriff über [sich] ergehen“.
Im Keller des Krankenhauses an der Behlertstraße wird die 29-jährige Hildegard H.
zusammen mit anderen Frauen in einen Schutzraum gebracht. Gestern hat
sie ihren zweiten Sohn Manfred geboren. Die Säuglinge werden von ihren
Müttern getrennt und in einem Nachbarraum gebracht. Dann wird das Haus
von einer Bombe getroffen. Die Frauen schreien „fürchterlich; auch die
Kinder, die nebenan in einem extra Raum“ sind. Dann Stille. Der Raum
füllt sich mit „Rauch und Staub, man [kann] nichts mehr sehen, der Qualm
[wird] immer dichter“ und die Frauen bekommen kaum noch Luft zum Atmen.
In der Garde-du-Corps-Kaserne hat sich Hauptmann Dr. Brauer im
Keller der Kaserne Am Kanal eingefunden. Der Boden bebt und schwankt
„wie der Boden einer Segeljacht auf bewegter See. Sekundenlang?
Minutenlang?“ – die Zeit ist nicht mehr greifbar. Dann knallt und rummst
es heftig. Die „acht bis zehn Mann in dem kleinen Raum, der nur etwa
drei mal vier Meter groß“ ist, werden durcheinander geworfen. Schwarzer
Qualm kriecht in den Raum. Brauer und ein Bekannter versuchen die Tür
zuzudrücken. Zu zweit stemmen sie sich gegen die Tür. Vergebens. „Immer
wieder [reißt] der Luftdruck neuer Explosionen ihnen die Klinke aus der
Hand“.
Die Begeisterung über den freien Abend ist bei Karl-Heinz Redlin
längst gewichen. Der Wechsel von Über- und Unterdruck lässt die offene
Schutztür des Bunkers in der Mammonstraße hin und her schlagen. Der 15-Jährige steckt sich die Finger in die Ohren und öffnet den Mund,
um für Druckausgleich zu sorgen.
Jetzt schlagen auch erste Bomben in der Kaiser-Wilhelm-Straße ein. Hans-Werner Mihan
zündet im Luftschutzraum eine „Endsieglampe“ an. Im Schein der Kerze
sieht er die verängstigten Gesichter der anderen. Manche beten, andere
schreien und wieder andere schweigen einfach. Die Druckwellen der
Explosionen sind trotz geschlossener Kellertür deutlich zu spüren.
22.47 Uhr
Um genau 22.47 Uhr und 30 Sekunden macht die Bordkamera der NG 130 ein Foto von der
ersten und letzten Reise der tödlichen Fracht. Aufgrund der
Angriffshöhe (6100 Meter) werden die Bomben bereits 2,5 Kilometer vor
dem Zielgebiet – ungefähr über Hermannswerder – ausgelöst.
An der Langen Brücke kauern noch immer Karl-Heinz Blank und seine Kameraden. Der Boden unter ihnen „zittert und dröhnt“. Sie beobachten, wie „die Stadt im Feuer untergeht“.
22.48 Uhr
Die Funkverbindung zum Master
Bomber ist teilweise gestört, doch die Bomberpiloten haben beste Sicht
auf ihr Angriffsziel. Das Zielgebiet ist aufgrund der Freundschaftsinsel
bestens auszumachen. Zwar steigt jetzt jede Menge Qualm auf, aber die
„Bodeneinzelheiten [sind] sehr klar“ zu erkennen. Ebenso die
Zielmarkierungen. Manche Piloten wundern sich daher, dass in der
jetzigen Phase die Bomben so zerstreut fallen.
Wo die Bomben fielen
Auch mehr als 70 Jahre nach der „Nacht von Potsdam“ werden noch immer Blindgänger der britischen Fliegerbomben in der Stadt gefunden. Ihre Verteilung gibt Aufschluss darüber, wo die Bomben am 14. April 1945 fielen. Zur kompletten Karte.
„Am Bahnhof war es dramatisch"
22.57 Uhr
Eine starke Explosion am Bahnhof.
22.59 Uhr
Eine
weitere, sehr heftige Explosion am Bahnhof. Ein Munitionszug, der auf
einem Nebengleis des Bahnhofes abgestellt war, geht in die Luft. Den
Bahnhof hat es an sich schwer getroffen. Er liegt mitten im Zielgebiet.
Gleise ragen aufrecht in den Himmel, überall aufgerissene Straßen und
kaputte Gebäude.
Kurz nach 23 Uhr – Der Angriff endet, das Inferno beginnt
Der koordinierte Angriff auf Potsdam ist beendet, der „Master Bomber“ dreht ab und verlässt das Zielgebiet. Die
Detonationen werden weniger. Die Lancaster NG 130 ist jetzt schon
einige Kilometer von Potsdam entfernt. Doch dann ein Angriff eines
deutschen Abfangjägers. Die Maschine wird vom Hauptverband abgedrängt.
Der englische Bomber übersteht den Angriff jedoch ohne Schäden und
findet schnell wieder Anschluss.
Als keine Bomben mehr auf Potsdam niedergehen, öffnet Hauptmann Dr. Brauer die
Tür des Schutzkellers in der Gardes-du-Corps-Kaserne. Mauertrümmer
versperren den Ausgang und erschweren den Weg nach draußen. „Verworrene
Rufe von links und rechts“, „angstvolles Rufen weiter vorn, wo die
Frauen und Kinder saßen“. Eingeschlossene werden befreit und auch die
rund 200 Frauen und Kinder, die in einem größeren Raum in der Kaserne
untergebracht waren, sind alle wohlbehalten. Lediglich ein „Soldat liegt
mit gebrochenen Knochen im Treppenflur. Ihn hatte ein Luftstoß erfasst
und in den Kellerflur geschmettert“. Schwerverletzt, aber immerhin
lebend.
(Foto:
Kriegszerstörungen der Potsdamer Innenstadt nach dem
Angriff.)
Die Flieger verlassen Potsdam
23.15 Uhr
Britische Bomber starten jetzt
einen Angriff auf die Reichshauptstadt Berlin. Es ist Ablenkungsangriff,
um den Heimflug der Bomber zu sichern. Bis 23.21 Uhr fliegen sechzig
zweimotorige Bomber („Mosquitos“) Angriffe auf die Stadt. Ein
Großteil der Bomberflotte, die Potsdam angegriffen hat, ist derweil
schon über Halberstadt. Dort gerät die NG 130 wieder ins Visier
deutscher Luftabwehr. Doch die Flak richtet keinen Schaden an.
23.16 Uhr
Der letzte britische Flieger verlässt den Luftraum über Potsdam.
23.30 Uhr - Trümmer und Flammen
Die Sirenen für die Entwarnung funktionieren nicht. Dennoch verlassen
jetzt viele Menschen in Potsdam die Luftschutzbunker. Auch Eva Bidder treibt es nach draußen. Was sie sieht, sind „nichts als Trümmer und Scherben“.
Hans-Werner Mihan
kontrolliert zusammen mit den anderen ihren Unterstand und wagt sich
dann nach draußen. „Größere Schäden sind nicht zu erkennen“. Er schlägt
sich durch bis zur Junkerstraße (heute Gutenbergstraße). Dort bietet
sich ein Bild der Zerstörung. Der Bassinplatz ein Trümmerfeld, übersät
mit Bombenkratern.
Hauptmann Dr. Brauer und
weitere Soldaten kontrollieren nun jeden Raum in der
Gardes-du-Corps-Kaserne. Gab es doch Verluste? Schließlich ist ganz in
der Nähe eine Mine explodiert. Dann müssen sie „herzlich lachen“. Der
Raum, in dem die 100 Todeskandidaten untergebracht waren, ist
menschenleer; der Notausgang offen. „Ein gutes, ein tröstliches
Zeichen“, findet Brauer.
Auch Ursula Radke kann
ihr Glück nicht fassen. Ihr und ihrem Kind ist nichts passiert. Zusammen
mit anderen verlässt sie den Keller, um „in der Nachbarschaft Hilfe zu
leisten“. Weit kommen sie nicht. Überall ist Feuer. Die Frauenklinik in der
Behlertstraße ist getroffen und brennt. Rauch und Trümmer machen es für
die junge Mutter jedoch unmöglich „an die Brandstelle heranzukommen“.
Wolfgang Heese
ist über die Lange Brücke gekommen, passiert jetzt die
Bittschriftenlinden am brennenden Stadtschloss und rennt weiter zum
Wilhelmplatz. Dort trifft er auf Hans Friedrich, Oberbürgermeister von
Potsdam. Dieser hat Tränen in den Augen. Doch Heese muss weiter. Muss
zum Krankenhaus und dort ein Fahrzeug für Verletztentransporte
organisieren.Im Luftschutzraum in der Kaiser-Wilhelm-Straße „zerrt die Ungewissheit an den Nerven“. Ist das jetzt das Ende des
Angriffs oder folgt eine zweite Welle?
„Wir wären sonst verbrannt“
Horst Goltz und andere Hitlerjungen sollen „die zerstörte Telefonleitung zwischen der Kreisleitung der NSDAP am Wilhelmplatz Nord und dem Polizeipräsidium in der Priesterstraße wiederherstellen“. Der Versuch schlägt fehl, die Jungen kehren zurück, da „außer der Nordseite alle übrigen Seiten des Wilhelmplatzes in Flammen stehen“. Auch brennen viele Häuser zwischen dem Kanal und der Breiten Straße bis hin zur Garnisonkirche. Er selbst schützt sich mit einer nassen Matratze auf dem Rücken vor der Hitze und den Flammen.
Feuer an der Garnisonkirche
Etwas weiter westlich wurde der Lange Stall an der Garnisonkirche
getroffen. Er brennt. Die Kirche scheint auf den ersten Blick
unversehrt. Pfarrer Gerhard Schröder entdeckt zunächst
nur kleinere Brände. Der Gottesmann lässt Schläuche auf den Turm hieven,
doch es kommt kein Wasser. Plötzlich trägt eine Windböe die lodernde
Glut vom benachbarten Langen Stall auf das Kirchendach. Schröder, nichts
Gutes ahnend, handelt geistesgegenwärtig. Es gelingt ihm, Inventar wie
den Feldaltar, ein Kruzifix und Leuchter ins Freie zu retten. Er wird
von anwesenden Soldaten beruhigt: Gefahr für die Kirche durch ein Feuer
bestehe nicht. Kurz darauf brennt der Turm jedoch wie eine Fackel. Die
Löscharbeiten der Kirche haben aber augenscheinlich keine Priorität.
Ein Wehrmachtslöschtrupp steht untätig herum. Später brennt auch das
Kirchenschiff.
Wolfgang Heese hatte bei der Suche nach einem Fahrzeug
für Krankentransporte Glück. Ihm und seinem Begleiter wird ein Mercedes-Krankenwagen gegeben.
Umgehend machen sie sich auf den Rückweg. Über die Berliner Straße sind
sie am Kanal entlanggefahren und wollen an der Garnisonkirche weiter zur
Epilepten-Anstalt in der Alten Zauche. Doch an der Garnisonkirche geht
es jetzt nicht mehr weiter. Die Kirche brennt und Kirchenglocken liegen
auf der Straße. Zudem überall Trümmer. „Mehrere Versuche weiterzukommen
scheitern“.
„Ich bin durch die Hölle gelaufen“
„Ich bin durch die Hölle gelaufen“
Am Stadthaus
schreit eine Frau mit angesengten Kleidern: „Ich bin durch die Hölle
gelaufen“ – und meint die Französische Straße. Die Straße, in der auch
das Elternhaus von Ilse Peinert steht. An ein
Durchkommen vom Stadthaus bis zu den Eltern ist nicht zu denken. Doch da
kommt schon der Vater. Mit angesengten Haaren, aber ansonsten – wie der
Rest der Familie – unverletzt sagt er lediglich: „Kind, nun sind wir
bettelarm“. Nicht nur, dass das Haus zerstört ist. Das bisschen Habe,
was zunächst gerettet schien, wird der Familie gestohlen.
Für Jürgen Zippel ist es ein „Dante’sches Inferno“.
Er macht sich auf zu seiner Wohnung. Feuer überall. „Von der
Kaiserstraße und vom Alten Markt her fressen sich Brände in den Block
hinein“.
Am Wilhelmplatz konnte sich Werner M.
aus dem Keller befreien. Wie im Wahn rennt er nach Hause. Das Haus ist
zerstört. Da ist „nichts mehr zu retten“. Wahllos sammelt er Sachen auf. „Lauter Quatsch“, was er im Schutt zu greifen bekommt: „Dessertteller
und ein paar Kaffeetassen“. Um ihn herum brennt es. Dann hält ihn jemand
am Fuß fest – zumindest denkt er das. Es wird warm in seinem Schuh.
Er ist in einen Nagel getreten.
Hauptmann Dr. Brauer steht
im Hof der Gardes-du-Corps-Kaserne. Jenseits der Garagen und
des Kasernenbereiches sind alle Häuser wegrasiert, bis zum Wasser
plattgewalzt. Er kann bis zum Bahnhof blicken: „Ein Feuermeer“. Von den
nahen Flächenbränden droht höchste Gefahr durch Funkenflug, „wie
Schneeflocken so dicht“. Der „ganze Himmel feuerrot“. Zusammen mit anderen Soldaten macht er sich auf die Suche nach
Verschütteten. Die „ganze Burgstraße, kellerlose Häuser, hoffnungslos
zerstört“. Das alte Zollhaus zerstört. Wenige Meter weiter kommt ihnen ein junges
Mädchen weinend entgegen. Sie erzählt, dass sie auf dem Weg ins Kino war,
als der Angriff begann. Ihre Eltern und Geschwister sind jedoch im
Luftschutzraum verschüttet. Die Soldaten machen sich an die Arbeit,
räumen Trümmer weg. Dann plötzlich ein Kinderschuh. „Meine kleine
Schwester“, ruft das Mädchen. Schnell räumt man weitere Trümmer weg.
Vergebens. „Über den Knien des Kindes liegt eine schwere halbe Hauswand,
darüber der lose Schutt, kubikmeterweise“.
Der erste Gedanke von Anneliese Sotschek
in der Wollestraße in Babelsberg gilt dem Großvater. Schnell in die
Wohnung. Dort sind alle Fenster raus. Die Tür zum Schlafzimmer fehlt –
sie liegt auf dem Bett. Darunter der Großvater. Die Decke hat er über
den Kopf gezogen. Er zittert, aber er lebt.
Das Stadtschloss in Trümmern
Bis auf das Stadtschloss bleiben die anderen Schlösser und Gebäude in den Parks von den Bomben verschont. Jedoch werden die Garnisonkirche, der Lange Stall und das ganze Ensemble am Alten Markt, wie der Palast Barberini oder das Alte Rathaus, beschädigt und getroffen. Lediglich die Nikolaikirche kommt in dieser Nacht relativ unbeschadet davon.
Fast 1600 Tote - und eine zerstörte Stadt
In Potsdam herrscht das Inferno. Der Großteil der Bomben ging in einer
knappen halben Stunde zwischen 22:40 und kurz nach 23 Uhr auf die Stadt
nieder. Über 1700 Tonnen Bomben legten vor allem den Bahnhof und die
Gleisanlagen in Schutt und Asche.
Insgesamt werden in dieser Nacht 1593 Menschen in Potsdam direktes Opfer des Luftangriffs und der Flammen nach dem Bombardement. Fast 1000 Gebäude in der Innenstadt sind vollständig zerstört, 60.000 Menschen werden obdachlos.